Moskau – Architektur und Anarchie im Rahmen

Wo sind all die Chruschtschow-Bauten hin?

Bei 27 Grad geschuldetem stahlblauen Himmel stutzen wir über diverse Architektur, hippe Architekturstudenten in einer alten Schokoladenfabrik, die Moderne verkündenden Bürotürme internationaler Stararchitekten von Moskau City, übrige Holzhäuser und wieder erbaute orthodoxe Kathedralen sowie Pjotr.

Vika und ich trafen am Flughafen Domodjedowa aufeinander. Sie kam aus Tjumen, Westsibirien, hat die eine Hälfte ihres Lebens dort gelebt, verbringt die andere jetzt in Deutschland. Sie ist meine Freundin und perfekte Reisebegleiterin. Und sie spricht russisch. Was hilft. Auch in Moskau.

Neuer Arbat – WM, Plattenbau und Neonlicht

Zwei Stunden, eine Zug- und Metrofahrt später stehen wir im Stadtviertel Neuer Arbat. Die Chruschtschowsen Riegel knallen uns grün, rosa Flackerlicht entgegen, das mosaikbehaftete Flachdachkino dazwischen spult karminrote Filmvorschauen ab. Kommunismus in die Neuzeit geblasen. Ob dieser Nachtauftritt noch der WM zu verdanken ist oder gängiges Standardprogramm konnte ich bis zum Ende der Reise nicht klären. Dass Städte immer Vergangenheit und Gegenwart auf den Gesichtern der Häuser tragen, ist auch nicht neu. Doch der Kontrast in Moskau ist krass. Und das durchgängig.

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Metro: 9 Millionen Menschen unter Kronleuchtern

Tags darauf wollten wir Moskau pur, vorurteilsfrei, real und nackt. Die Metro ist dafür das perfekte Transportmittel. Unkompliziert, billig und schnell. Alle 30 Sekunden transportiert sie 9 Millionen Moskauer. Die unterirdischen Hallen wurden als Paläste des Volkes in den 30ern realisiert. Sie sind der erste architektonische Wahnsinn. Kronleuchter, Mosaike, Bronzeskulpturen, die gestreichelt werden müssen. Zur Ruhe kommen kann das Auge dort nicht. Es ist bizarr und genial. Von den barocken Gewölben ging es ins Zentrum der Macht. Eine weitere Moskauer Freundin von Vika verstärkte uns. Und auf ein Boot.

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Rem Kolhaas zwischen Surfbrett und goldener Zwiebel

Neben den gängigen politischen Sehenswürdigkeiten ballte sich eine architektonische Diversität, die schwer fassbar war. Das Lushniki-Stadion links, das goldene Gehirn (Akademie der Wissenschaften) im Gorki-Park rechts, der Kreml links – groß und schwer fassbar, Pjotr, Peter der 1., in der Moskwa, dunkel furchteinflößend und größer als die Freiheitsstatue. Im Gedenken an die russische Marine.

Goldene Kuppeln vor Klinkerbauten, Empiregebäuden, Jugendstilfassaden. Gigantische Prachtalleen, die Prospekts. Fassaden, die Glastürme internationaler Stararchitekten der Moskau-City, der Kiewer Bahnhof, wieder klassizistische Fassaden, die „Sieben Schwestern“ genannten stalinistischen, weiß leuchtenden Burgen, ein stetes Erinnern.

Christi-Erlöser-Kathedrale Moskau

Dazwischen die Christi-Erlöser-Kathedrale. Gigantisch, orthodox. Eingestampft von Stalin. In den 90ern wieder aufgebaut. Gegenüber ein Surf-Café in den ehemaligen Garagen der alten Schokoladenfabrik Roter Oktober.

In diesen sitzt Strelka, das nichtstaatliche Institut für Architektur, dessen Dekan Rem Kohlhaas gewesen war. Dmitry Likin und Oleg Shapiro und ihrer Firma Wowhouse ist Einiges an urbanem Lifestyle, an Nutzung öffentlicher Flächen in Moskau zu verdanken. Auch der Gorki-Park mit grünem Krimskaya-Ufer statt Autobahn und einer Eislaufbahn verdankt seine Erneuerung diesem Büro.

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Hatte ich eines nicht erwartet, dann, dass ich als Erstes über Architektur, Kreativität und Kunst, statt Politik stolpere.

Die Reise ist und bleibt ein immer währender Eindruckstaumel. Ich esse vor einem Club eine vegetarische Pizza und denke an Anastasia.

Anastasia, die Mülltrennung und das Qualifizierten-Problem

„Das Erste, was ich im Sprachkurs nach Deutschland lernte, war, wie ich meinen Müll trennen muss!“ Bereits 10 Minuten nach Start im Flieger der Sibirian Air löcherte mich die 30-jährige Weißrussin Anastasia, warum in Deutschland die Phase, des sich beruflich Unter-Beweis-stellen-zu-Müssens nie zu Ende geht? Sie hatte sich in Weißrussland zur Lehrerin und Professorin ausbilden lassen, in Regensburg einen Master in Betriebswirtschaft gemacht und war jetzt Werkstudentin. All Ihre Bewerbungen wurden aufgrund ihres Einstiegsgehalts von 35 000 Euro abgelehnt. „Werden meine Fähigkeiten und Kenntnisse eigentlich irgendwann einmal honoriert?“, wollte Sie von mir wissen. Ich informierte sie, dass nun üblicherweise eine Trainee-Tätigkeit, dann eine Junior-Anstellung und vielleicht mit 35 eine Festanstellung in Sicht sei. Anastasia wird bis dahin nicht mehr da sein. Sie geht Ende Dezember nach Weißrussland. Dort wird sie eine Führungsposition mit entsprechender Bezahlung aufgrund ihrer Qualifikation bekommen. Sagt sie.

Riegel gegen den Wohnungsmangel

Natürlich existieren die in Deutschland Plattenbau genannten gesichtslosen Türme mit stets dergleichen Innenausstattung nicht nur in den Randzonen Moskaus, sondern auch in der Innenstadt. Moskau ist ein Fassaden-ElDorado, aber in alle erdenklichen Richtungen. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow bot dem Wohnmangel mit der Errichtung kartonförmiger Wohnhäuser die Stirn. Statt Kommunalka eine eigene Küche und Haustür. Ob der architektonisch fragwürdige Baustil Chruschtschows Kunstsinn zu verdanken ist – er soll dem abstrakten Künstlerbild Jewtuschenkos just in Moskau den Vorwurf „es sei mit dem Schwanz eines Esels gezeichnet“ gemacht haben – bleibt eine Aufgabe für Kunsthistoriker.

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Menschen: Rasende Aktivität 

Die Menschen, die ich kennengelernt habe, stellen nicht so viele Fragen. Sie wissen oft die Antworten nicht oder wollen nicht darüber reden. Sie nehmen die gesetzten Rahmenbedingungen aus Politik und Wirtschaft hin und gestalten im Rahmen des Möglichen. Das ist küchenpsychologisch interpretiert wohl gelerntes Überlebensmuster der letzten politischen Jahrzehnte. Ich fand es beeindruckend. Kein Zaudern, Verzagen und Verzweifeln, sondern Handeln. Vor allem die Frauen, so scheint mir.

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Russische Frauen und ihr Leben in gerahmter Anarchie

Im Zeitmagazin hat jüngst Alard von Kittlitz die Frau eines reichen Russens als jung, handyaffin und mit spöttischem Blick den Erzählungen ihres Mannes gegenüber interpretiert. Häufig klingt westliche Sicht auf chauvinistisch anmutende Mann-Frau-Beziehungen in Russland zweifelnd und kritisch. Na klar. Auf den ersten Blick sieht das nicht liberal, autark, frei und demokratisch aus.

Die Russinnen, die ich kenne, sehen das anders. Sie akzeptieren den Ehemann als Rahmenbedingung und familiäre Lebensgrundlage. Im Rahmen des Möglichen schöpfen sie jegliche Freiheiten aus. Kinder und Familie, berufliche Karriere. Totale Anarchie im Rahmen des Möglichen. Ein liberales Kommen und Gehen in einer Beziehung. Das schafft keine Veränderung, keine Revolution, aber auch keine Depression. Es wirkt als würden sie keine Ressourcen auf unveränderliche Fakten vergeuden, sondern ein selbstbestimmtes Leben einer unbekannten Schattenzone vorziehen.

Das ist eine gewagte subjektive Interpretation. Es ist keine allgemein gültige Wahrheit, aber eine Beobachtung.

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Noch viel schlimmer – Ich bin westliche Propaganda

„Stell dir vor, die Deutschen glauben, Homosexuelle können hier nicht unbehelligt leben. Westliche Propaganda.“

SMS meiner Freundin an einer ihrer besten Freunde, in Moskau ansässig. Noch nie bin ich der Propaganda bezichtigt worden. Ich bin differenziert, recherchiere gründlich und habe einen immensen Gerechtigkeitssinn. Aber die oben zitierte Ansicht ist wohl eine. Literaten, Schriftsteller und Schauspieler, Homosexuelle, jeder hat in Moskau seinen Platz, das war und ist wohl so. Sagt der Freund und auch die Moskauer Freundin von Vika. Den Anspruch, sich auch in der Öffentlichkeit ohne Schikane bewegen zu können, im Beruflichen nicht eingeschränkt zu werden, keine Nachteile zu erfahren, tut sie mit einem Handwinken ab. Wer will schon in der Öffentlichkeit seinen Mann küssen? „Das mach ich auch nicht. In Deutschland ist es an vielen Orten auch schwer.“

Mein ständiges Insistieren nach Veränderung und Verbesserung der Situation, mein Drängen, dass doch viel mehr Luft nach oben sei in Richtung Demokratie, tut sie ab. Es ist doch alles gut. Was willst du.

Ihre Perspektive ist legitim. In Deutschland ist es an vielen Orten gerade sehr schwer. Was Toleranz, Gerechtigkeit und Entspanntheit mit anderem und anderen anbelangt. Insofern halte ich mich mit weiteren kritischen Fragen zurück und lasse erst einmal wirken.

Die gerahmte Anarchie. Mit diesem Wort im Kopf fahre ich heim. Und voll mit Architektur. Klar, dass im Herbst die Kunst in Moskau dran ist und eine Runde Eislaufen im Gorki Park.

Übrigens. Wir hatten zwei Kinder im Alter von elf dabei. Sie fanden die Wachablösung an der Kremlmauer am Beeindruckendsten, da sie wegen Hinsetzens auf eine Mauer zur Ordnung gepfiffen wurden. Außerdem Eskimo-Eis und den imaginären Flug über Moskau mit echten Tropfen bei der Wolkendurchquerung und Wind im Haar.