Streamen als sozialer Klebstoff
Berliner Clubs gründen eine Plattform namens United We Stream, um DJS und Künstlern eine Perspektive zu eröffnen. Streaming-Geräte sind irre angefragt, Bibelcenter fragen an und eine Privatperson freut sich riesig über eine Drohne, die ich in der Arbeit zusichern kann: „Dann kann ich wenigstens noch fliegen.“
Letzte Scheidung im Gericht
Meine Freundin hat die zweifelhafte Ehre das letzte Scheidungsverfahren des Tages zu sein. Ab sofort verhandelt das Gericht nur noch Strafangelegenheiten und weiteres gewichtiges Fehlverhalten. Wir sind uns einig, dass auch Ämter in Zukunft diese Arbeit tragen könnten, ein Gericht bei einstimmigen privaten Ehedesastern zu beschäftigen, erscheint uns beiden reformbedürftig. Sie hat als Journalistin inzwischen alle Interviewtermine abgesagt und lässt sich Audio-Dateien für Ihre Beiträge per WhatsApp zusenden.
Sozialer Sprech am Beton-Rednerpult
Abends versammeln sich Kinder, Nachbarn und eine bekannte Familie an unserer Betonstele. Es fühlt sich propädeutisch an, als würde ich an der Rednerbühne vorüben, wie Konversationen ab sofort ins Rund hinaus geführt werden. Italien zeigt deutlich, was exponentielles Wachstum bedeutet. Jeden Tag frage ich mich, ob ich die Kinder wirklich noch mit den 8 Nachbarskindern flitzen lasse. Inzwischen ist klar, dass das nur noch unvernünftiges Hinausschieben von Verantwortung ist.
Der erste rollende Mundschutz
In der Mittagspause rollt mir eine Frau mit Handschuhen und Mundschutz entgegen. Die erste von Angesicht zu Angesicht. Ich halte einen schlenkernden Abstand für sie. Die Schlange beim Bäcker ist doppelt lang, vereinzelte Personen sitzen nebeneinander gereiht an Tischen. Schulter an Schulter und sprechen quer zueinander.
Zunehmendes Bedürfnis allen zuzureden
Während Chris Martin von Coldplay ein erstes Kurzkonzert streamt, diskutieren die Restaurantbesitzer, die nur noch bis 15 Uhr öffnen dürfen, ob sich Catering und Take-Away-Varianten lohnen. Die Mitarbeiter eines Freundes gehen in Kurzarbeit, nur ein Koch und eine Service-Kraft bleiben. Ich jogge mit meinem Freund und seinem Sohn in Schlange. Erstmals fühle ich Abstand und Misstrauen auf den engen Wegen. Auch das Ordnungsamt fährt durch den Park seine Runden. Die Spielplätze bleiben deswegen leer. Ab und an streunt ein Hund darüber.
Die gemeine Pferdegrippe
Allüberall auf allen Wipfen sieht man nun virale Epidemien sitzen: Beim abendlichen Vorlesen leiden die Pferde inklusive Polly Schlottermotz Vater an Pferdegrippe, der Geburtstag fällt aus, Gäste sind ausgeladen und Zombiemädchen Mortina verschlingt der plappernde Efeu. Meine Neuronen schlagen inzwischen beim Vorlesen Brücken, für mich ist seit heute klar, was auf uns zukommt.
Emanzipation to go – im Homeoffice
Im tiefsten Inneren befriedigt die Corona-Krise und die veränderten Arbeitsbedingungen mein feministisches Sehnen nach beruflich-familiärer Gleichberechtigung. All die Sales-Manager und Führungskräfte im Home Office führen entspannte Telefonate mit abrupten Pausen. „Moment, ich muss kurz meinen Home-Office-Pflichten nachkommen“. Heißt wohl: das Kind brüllt, die CD muss gewechselt werden oder ein Stift gespitzt. Ich verkneife mir: Wie schön, dass Sie jetzt auch für mehr als einen Tag erfühlen dürfen, wie sich das anfühlt – und ich hoffe insgeheim, dass es für uns Frauen und Männer noch lange so gleichberechtigt weitergeht.
Klebstoff 2: Freundlichkeit
Seit heute empfinde ich die Menschen zugewandter und freundlicher. Bei Lieferschwierigkeiten ernte ich Verständnis und viele Dankeschöns für erneutes Nachhaken bei Distributoren. In allen Bereichen jeglicher Unternehmen engagieren sich die Mitarbeiter für Gesundheit, Sicherheit und wirtschaftliche Strategien. Diese Gemeinsamkeiten sorgen für Verständnis, da weltweit alle in einem ähnlich gebauten Boot schwanken. Fühlt sich gut an.